Von Stefan Nink

Die Iren gelten als die freundlichsten Gastgeber der Welt: Überall auf der Grünen Insel, heißt es, könnten Urlauber sehr schnell Kontakt zu den Einheimischen finden. Unser Autor hat das ausprobiert – unfreiwillig.

Tag 1: Madeleine

Es regnete, natürlich regnete es, was denn sonst, war ja Irland, war ja Herbst und überhaupt ziemlich genau so, wie es die Wettervorhersage angekündigt hatte: Das Tief Madeleine über dem Atlantik erweise sich als außerordentlich stabil, na prima. Es hatte am Flughafen geregnet, beim Bepacken des Mietwagens geschüttet, und auf dem Weg hinaus nach County Kerry war der Regen dann in einen durchgehenden Wolkenbruch übergegangen.

An der Bar des Golfhotels saßen Männer mit traurigen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln. Der Wirt versuchte, sie mit Golferwitzen aufzuheitern. Eigentlich funktioniert so was immer. Dieses Mal nicht, offenbar regnete es schon länger. Beim zweiten Guinness vibrierte dann das Telefon. Er müsse leider absagen, schrieb mein Freund per SMS aus London, ein eingeklemmter Nerv, da ginge nichts, aber ich: Ich solle es mir mal gut gehen lassen im schönen Irland. Blödmann, sagte ich halblaut zur SMS. Statt eines Guinness bestellte ich Whiskey. Einen doppelten.

Es stürmte, der Wind schien kleine Dellen in die Welt drücken zu wollen © Stefan Nink

Tag 2: Molly

Am nächsten Morgen war der Himmel mit dunkelgrauem Gewölk überzogen, das aussah wie der Hintergrund von historischen Gemälden, auf denen Segelschiffe in Seenot geraten. Der Golfplatz wiederum sah aus, als würde er demnächst als Sumpfgebiet unter Naturschutz gestellt: sieben, acht sonnige Tage nacheinander, und er würde wieder bespielbar sein. Die Männer mit den herunter gezogenen Mundwinkeln bestellten Gin and Tonic zum Frühstück. Es gibt auf Gottes weiter Welt kaum etwas Trostloseres als ein abgelegenes Golfresort im Dauerregen, so viel ist mal klar. Ich beschloss, auszuchecken. Und später irgendwo wieder einzuchecken. 

Dass dieses Irgendwo Cloghane hieß, war Zufall – ich fuhr da bloß gerade durch, als die Scheibenwischer des Mietwagens am Freitagnachmittag ihren Dienst quittierten. Aus Erschöpfung, vermute ich mal. Draußen dämmerte es, was aber weniger mit der Uhrzeit zu tun hatte als mit der Tatsache, dass es den ganzen Tag über noch nicht richtig hell geworden war. 

Es liege am Motor, sagte der Mann an der Tankstelle, am Scheibenwischermotor, da müsse ich wohl bei der Mietwagenfirma anrufen, er könne mir da nicht weiterhelfen. Er putzte sich die regennasse Brille mit einem grünen Tuch und faltete es anschließend akkurat zusammen, „Friendly Ireland“ stand drauf. Bei der Frage, ob es im Ort denn eine Unterkunft gebe, hellten sich seine Gesichtszüge auf. Er rief seine Cousine an. Molly hatte ein Bed & Breakfast, und Molly hatte ein freies Zimmer.

Was nur die halbe Wahrheit war: Außer mir gab es keinen einzigen anderen Gast. Molly stellte sich mit den Worten „I’m Molly and I’m 82“ vor. Sah älter aus, die Molly, fünfzehn Jahre, mindestens. Eigentlich sah sie älter aus als die älteste Frau, die ich je gesehen hatte, und einen ähnlichen Eindruck machte auch das Zimmer: Mobiliar aus dem vorletzten Jahrhundert, vergilbte Blümchenmotivbezüge und im Bad einer dieser schrecklichen Teppiche in Altrosa. Mein Handy hatte keinen Empfang, aber immerhin funktionierte das Telefon am Bett, eines dieser schweren Geräte, wie man sie aus alten Filmen kennt, die sind aus Bakalit, glaube ich. Ich rief die Mietwagenfirma an und besprach den Anrufbeantworter. 

Die Scheibenwischer? Molly machte ein Geräusch, das sich wie Pah! anhörte. Offenbar hatte sie an der Tür gelauscht. Und würde jetzt gleich wahrscheinlich erzählen, wie sie und ihr Cousin früher zu Fuß in die Schule gegangen waren, bis rüber nach Castlegregory, jeden verdammten Morgen hin und abends wieder zurück (ihrem Aussehen nach waren damals möglicherweise Cromwells Schergen hinter ihnen her), und anschließend noch sieben Stunden Kartoffeln schälen mussten oder Ziegen hüten oder so etwas. Ich bin dann schnell nach draußen. Irgendwo in diesem Ort musste es einen Pub geben, da war ich mir sicher.

Molly hatte ein Bed & Breakfast, und Molly hatte ein freies Zimmer © Stefan Nink

Tag 3: Margareth. Und Edna.

Man glaubt gar nicht, wie lange man in einem unbequemen Bett schlafen kann, wenn man richtig müde ist. Und wie müde man sein kann, wenn man richtig lange bei O’Donnells war. Das ist das lokale Wirtshaus. Irgendein Verein für Irische Tradition hat ihm mal eine Auszeichnung verliehen, weil es so traditionell ist. Beziehungsweise: Weil es sich den zweifelhaften Errungenschaften der modernen Pubwelt bislang erfolgreich widersetzt hat. Es gibt dort keine Karaoke-Wettbewerbe, keine Flachbildschirme und auch keine Musikanlage, aus der „American Pie“ dröhnt oder ähnlicher Mist. Stattdessen servieren sie Fish & Chips, ein Abendessen mit einem nachgerade grotesken Kaloriengehalt.

Und Live-Musik gab es gestern auch. Ethan und Greg mit ihren Gitarren kamen, als ich eigentlich gerade gehen wollte. Plötzlich wurde es voll, und dann wurde es munter und dann ausgelassen und am Ende sehr spät. Möglicherweise kann ich mich nicht mehr an alles erinnern, aber an Ross schon noch. Der ist so was wie der Hobbyhistoriker hier. Er hat mir einen ausführlichen Vortrag über die Geschichte des Ortes gehalten. Ich weiß jetzt alles über den Heiligen Brandon und den Osteraufstand und auch, dass die Wikinger mal hier waren, aber das ist schon lange her. 

Bei der Mietwagenfirma lief der Anrufbeantworter. Ich sagte erneut mein Sprüchlein vom defekten Scheibenwischermotor auf und bat um Rückruf. Molly tat so, als habe sie nicht zugehört. Sie fragte, ob ich ihr kurz helfen könne: Sie wolle Blumen zum Friedhof bringen. Anschließend musste ich dann im strömenden Regen eine tonnenschwere Schubkarre mit einer kleinen Gärtnerei drin über die Hauptstraße schieben, und anschließend links einen Feldweg hoch, was wegen der Steigung und der Bodenverhältnisse ziemlich anstrengend war.

Der Friedhof von Cloghane ist übrigens leicht unheimlich, bröckelnde Mauern, vermooste Grabsteine und überall große Krähenvögel, die einen durchdringend ansehen. Es stürmte dann auch, der Wind schien kleine Dellen in die Welt drücken zu wollen. Zum Glück waren wir nicht allein, weil auch Edna und Margareth an diesem Vormittag ihren Gärtneraufgaben nachkamen. Wie sich heraus stellte, ist Edna die Mutter von Ross. Ach, der Junge! Soll sich doch endlich eine Frau suchen, klagte sie, und eine eigene Wohnung, und einen ordentlichen Job. Ich wollte wissen, was Ross denn mache, wenn er nicht heimatforsche. Er forsche etwas anderes, meinte Edna. Irgendwas mit Computern, was wisse sie schon, früher sei es doch auch ohne diese Dinge gegangen. Heute Abend sei er jedenfalls im Pub. Wie an jedem Abend. Ihr Mann Nathan ebenfalls, krähte Margareth, der sei ja auch zu nichts zu gebrauchen.  

Der Friedhof von Cloghane ist übrigens leicht unheimlich © Stefan Nink

Tag 4: Jill (und Jack und Jones und Jim)

Am nächsten Morgen regnete es nicht mehr, auch ohne Scheibenwischermotor hätte ich weiterfahren können. Ich war aber schon mit Ryan verabredet. Ryan ist der Großcousin von Margareths Nathan, ich hatte ihn abends im Wirtshaus kennen gelernt. Ryan züchtet Windhunde. Weil er mit denen oft Gassigehen muss, verbringt er viel Zeit draußen an der Küste. Nach Stürmen sucht er dort immer nach angespültem Strandgut. Mit einem Metalldetektor. Gestern Abend im Pub hat er einen alten Nagel aus der Tiefe seiner Cordhosentasche geholt. Der stamme von einem gesunkenen Schiff vor der Küste, da sei er sich sicher. Mit so einem Mann muss man natürlich mal mitlaufen, wenn der einem das schon anbietet!

Gefunden haben wir dann leider nichts. Trotzdem war es herrlich an der Küste: Die See hatte sich beinahe komplett beruhigt und schickte nur noch kleine Wellen an den Strand, die leise am Sand nagten. Es roch nach Torf und Salz und Seetang, und die Möwen zeterten, als wollten sie uns anfeuern, wie wir da mit unserem Metalldetektor und Jack, Jones, Jim und Jill über den Strand liefen. Jack, Jones, Jim und Jill sind Ryans Windhunde. Man glaubt gar nicht, wie feste die ziehen können, wenn sie merken, dass jemand die Leinen hält, der überhaupt keine Ahnung von Windhunden hat.

Tag 5: Maureen   

Es regnet schon wieder, bei der Mietwagenfirma sprang wieder der Anrufbeantworter an, und Molly hat wieder nach den Scheibenwischern gefragt. Wahrscheinlich bin ich ihr verdächtig. Beim Frühstück lag die Irish Times auf dem Tisch, mit allerlei NSA-Meldungen auf dem Titel, möglicherweise hat sie das nachdenklich gemacht. Habe Ihr angekündigt, noch zwei weitere Nächte zu bleiben, dann sei ich weg, übermorgen geht ja mein Flug zurück. Ich denke, Sie hält mich jetzt tatsächlich für einen normalen Touristen mit defektem Scheibenwischermotor. 

Anschließend bin ich dann doch noch zum Golfen gekommen, mit Maureen. Das ist Ryans Nichte, ein Geschöpf wie aus einem gälischen Märchen, die Schwester von Cate Blanchett könnte sie sein. Jack und Jones waren ebenfalls dabei (oder vielleicht auch Jim und Jill, man kann diese Hunde ja kaum auseinander halten). Sie sind jedem geschlagenen Ball hinterher und haben anschließend wie Wachposten an ihm gewartet, so etwas erspart einem viel Sucherei. Zwischen Loch 1 und 15 habe ich trotzdem mitleidserregend gespielt, weil ich die ganze Zeit überlegt habe, wie das wäre, mit einer Frau wie Maureen hier draußen an der Küste zu leben. Würde ich Ire, wenn ich sie heirate? Hätten unsere Kinder rote Haare und Sommersprossen wie ihre Mutter?

An Loch 15 klingelte ihr Telefon. Maureens Mann ist Autodesigner, das weiß ich dann jetzt auch. Mein Spiel wurde augenblicklich noch miserabler. Da werden ein paar Guinness fließen müssen heute Abend im Pub. Und Ethan und Greg spielen hoffentlich ausschließlich wehmütige Balladen.

Da werden ein paar Guinness fließen müssen heute Abend im Pub © Stefan Nink

Tag 6: Edna. Und Margareth.

Edna hat mich zum Kauf einer irischen Flöte überredet. Im Grocery Store. Ich wollte eigentlich nur zwei Sack Kartoffeln holen, Molly kann solche schwere Sachen nicht mehr tragen in ihrem Alter. Edna stand an der Kasse und unterhielt sich mit dem Besitzer. Ob ich denn heute Abend wieder im Pub sei, fragte er, offensichtlich wusste er genau, wann ich was wo gemacht hatte in Cloghane. Ich wiederum habe den Mann nie zuvor gesehen, aber egal: Dienstags sei ja immer Session Night, sagte er, da würden alle ihre Instrumente mitbringen. Edna erklärte dem Ladenbesitzer daraufhin, dass man als Golftourist ja wohl kaum noch eine Gitarre mit auf Reisen nehme, zu viel Gepäck koste ja bekanntlich sehr viel Gebühren, vor allem bei Ryanair. Dann ging sie hinüber zu einem Regal und kam mit der Flöte zurück. Das sei genau das richtige, meinte sie, und der Besitzer nickte: Genau das richtige.

Nachmittags habe ich dann einen langen Spaziergang unternommen. Man glaubt ja gar nicht, wie leer dieses Irland sein kann! Und wie wunderbar es ist, im Atlantikwind an der Küste entlang zu laufen! An Cappagh Beach habe ich auf der Tin Whistle dann „Danny Boy“ geübt, die traurigste Ballade, die je geschrieben wurde auf dieser Insel. Weil ich als Kind ganz gut auf der Blockflöte war, lief das relativ geschmeidig, gelernt ist gelernt. Bis auf die Stelle mit dem Oktavsprung, die im Refrain kommt: Da muss man an der Tin Whistle zwei Löcher halb zuhalten, die Lippen straffen und ordentlich Druck geben. Sonst hört sich das an, als würde der arme Danny Boy hinterrücks gemeuchelt. 

Abends im Pub kam dann mein großer Auftritt: Ethan und Greg baten mich auf die Bühne, und schon ging’s los mit „Danny Boy“. Bis auf den Oktavsprung funktionierte auch alles prima. Die Gäste applaudierten, und hinten an der Bar wischten sich Edna und Margareth die Tränen aus den Augen. Wer bei Danny Boy nicht weint, der hat kein Taschentuch, das steht fest. 

Man glaubt ja gar nicht, wie leer dieses Irland sein kann © Stefan Nink

Tag 7: Dora 

Eine SMS an meinen Freund in London geschickt: Unser nächster Golfurlaub wird hier stattfinden, in Cloghane, das kann er schon mal fest einplanen. Wohnen können wir hier im B&B, da haben wir unsere Ruhe. Molly hatte von meinem Auftritt gehört und meinte, Edna und Margareth hätten garantiert nicht vor  Rührung geweint, sondern bestimmt aus Entsetzen, „Danny Boy“ sei beiden nämlich heilig. Bei der Ballade müssten sie immer an ihre Verwandten denken, die in der Battle of the Boyne gefallen seien. Aber das war doch schon 1690!, rief ich. Es fühle sich aber wie gestern an, meinte Molly darauf. Außerdem hieße es nicht Battle of the Boyne, sondern Cath na Bóinne. 

Draußen schien die Sonne. Noch, muss man sagen, über dem Meer braute sich schon das nächste Regentief zusammen: Olga werde für ein nasses Wochenende sorgen, drohte der Mann im Radio. Bis dahin aber würde ich mit meinem defekten Scheibenwischermotor am Flughafen sein. Im Rückspiegel sah ich, wie Molly winkte, mit ihrem Taschentuch. Sie sah tatsächlich ein wenig traurig aus. 

Draußen schien die Sonne. Doch über dem Meer braute sich schon das nächste Regentief zusammen © Stefan Nink