Die Comic-Figuren Tim & Struppi wurden in Brüssel geboren, so wie abertausend andere ihrer Art auch. Belgiens schöne Metropole ist die Welthauptstadt der liebenswerten bunten Bilder-Geschichten.
Ein Rundgang durch das historische Zentrum zeigt,
dass das Kommunizieren mithilfe visueller Botschaften hier eine große Geschichte hat – und Flanderns Perle offenbart beim genüsslichen Bummel noch ganz andere Schätze
In Belgien erscheinen jeden Tag 16 neue Comics – ist das zu fassen?
Natürlich hat er die Zahlen parat: 4000 waren es im vergangenen Jahr, 4000 französische. Plus 2000 weitere in Niederländisch. Macht zusammen 6000, macht umgerechnet, Moment: „16 Neuerscheinungen täglich. 16! Jeden Tag!“ Willem De Graeve sieht aus, als werde ihm die Dimension seiner Leidenschaft in diesem Moment zum ersten Mal wirklich bewusst.
Der Direktor des Comic-Zentrums in Brüssel, das gerade sein 25-jähriges Bestehen feiert, überlegt für einen Moment, ob er sich gerade eben nicht verrechnet hat, und merkt dann, dass es stimmt: In Belgien erscheinen tatsächlich 16 Comics tagtäglich.
Und die allermeisten davon kommen aus Brüssel.
Werden hier gezeichnet, werden hier getextet und gedruckt. „Man vergisst das ja leicht bei all den Schlagzeilen, die Brüssel als Hauptstadt Europas produziert“, sagt De Graeve, „aber ganz nebenbei sind wir hier auch in der Comic-Hauptstadt der Welt. Man kann sich in Brüssel problemlos ausschließlich mit Comics beschäftigen. Ein Wochenende, einen ganzen Urlaub lang.“
Stimmt. Kann man. Für die meisten Besucher ist ein ausgedehnter Spaziergang aber wahrscheinlich völlig ausreichend – nach einem Besuch im Comic-Zentrum, das in einem grandiosen Jugendstilgebäude von Victor Horta untergebracht ist. Von hier führt der „Comicwände-Rundgang“ (zu dem es einen eigenen Stadtplan gibt) kreuz und quer durch die Innenstadt und an Fassaden vorbei, auf die die Stars der belgischen Bildergeschichten gemalt wurden.
„Blake & Mortimer“ warten im Trenchcoat unter einer Gaslaterne, von Gaston gibt es sogar eine große Statue, an einem Spielplatz sind Asterix, Obelix und all die anderen Gallier dabei, Römer zu verhauen. Für viele Fans der Höhepunkt: Tim und Struppi auf einer (gemalten) Feuertreppe, zusammen mit Kapitän Haddock – eine hauswandgroße Verneigung vor Hergé.
Je nach Blickwinkel entdeckt man überall in Brüssel Vorläufer des Comics
„Ohne Hergé wäre das alles nicht passiert“, weiß De Graeve. Der berühmteste belgische Comiczeichner war mit 22 schon ein Star, dem eine ganze Generation folgte. Hergé habe die Branche quasi im Alleingang zum Wirtschaftsfaktor gemacht. Über 80 Jahre nach dem ersten „Tim & Struppi“-Band arbeiten landesweit 800 hauptberufliche Comiczeichner, die meisten von ihnen in Brüssel. In der Hauptstadt gelten Comics als „9. Kunst“. Und sie passen perfekt zu einem Land, in dem mehrere Sprachen gesprochen werden. „Das Kommunizieren mithilfe von Bildern war ja schon immer einfacher als das per Sprache und Schrift“, meint De Graeve. „Das haben bereits die van Eycks und Breugels gewusst.“
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf entdeckt man auf seinem Spaziergang durch Brüssel tatsächlich überall Vorläufer der Bildergeschichten.
Am Grand Place zum Beispiel, dessen architektonische Schönheit einem den Atem nimmt und wo man sich unbedingt Zeit nehmen sollte zum Schauen und Staunen – da haben Steinmetze an fast allen Bauten Wappen oder Insignien der Mächtigen hinterlassen. Auch die Bildhauer, die die Heiligenfiguren an der Cathédrale Saint-Michel schufen, hatten eine Botschaft für die Gläubigen. Im Maison du Roi erzählen Stiche und Gemälde die Geschichte Brüssels. Und in den Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique kann man einige der eindrucksvollsten Bildergeschichten des Mittelalters bewundern: Pieter Breugel d. Ä. sind hier zwei komplette Säle gewidmet.
Mit der 9. Kunst im Sinn kommt einem auch das klassische, majestätische, royale Brüssel vor wie eine Stadt der Zeichen und Bilder. Und so, wie die Mächtigen von einst ihre Botschaften in Stein meißeln oder auf Leinwand malen ließen, so arbeiten Belgiens junge Grafikdesigner heute ebenfalls mit Symbolen, Schrifttypen und Emblemen.
Brüssel mag’s weltläufig
In der Rue des Bouchers reihen sich Spezialitätenrestaurants vieler Weltküchen aneinander, auf dem Grand Place die Tische für Gäste von überall her.Auch Brüssels Graffiti-Szene hat hier ihre Wurzeln. Und jeder Falafel- und Dönerimbiss in den Seitenstraßen der Innenstadt, der mit Fotos seiner Gerichte über der Theke mögliche Verständigungsschwierigkeiten ausräumt, macht nichts anderes, als: mit Bildern zu sprechen. Doch, das stimmt schon: Manchmal, je nach Blickwinkel und Betrachtungsweise, kann ganz Brüssel ein einziger Bildertrip sein. Und das ist in der Welthauptstadt der Comics ein Vergleich, über den sich jeder Brüsseler freut.