Jedes Jahr im April herrscht für zwei Wochen kultureller Ausnahmezustand im Seebad Ostende. Dann treffen sich hier Street-Art-Künstler aus aller Welt und verwandeln Häuserfassaden, Mauern und sogar Schaltkästen und Zebrastreifen in einzigartige Kunstwerke. Die bleiben für die Nachwelt erhalten – so sind im Rahmen des Festivals „The Crystal Ship“ in den letzten vier Jahren mehr als 60 Meisterwerke in der ganzen Stadt entstanden. Am besten könnt ihr sie bei einer Tour zu Fuß oder mit dem Fahrrad entdecken. 

 

Gemächlich rollen wir auf unseren E-Bikes die Straße am Ostufer des Ostender Hafens entlang. Rechts glitzert das Wasser, große und kleine Boote liegen dort vor Anker und schubbern am Kai. Und dann ist es plötzlich da: das Porträt eines Mannes, riesengroß. Sein Gesicht ist vom Wetter gezeichnet, tiefe Falten ziehen sich über die Stirn und rund um die Augen. Er wirkt melancholisch, fast traurig. Das Gemälde prangt an einer 15 Meter hohen Hauswand und wirkt so echt, als könne es jeden Moment lebendig werden und der Mann uns seine Geschichte erzählen. 

Tourguide Christa lässt uns erst einmal staunen. Sie kennt die Reaktion ihrer Teilnehmer auf dieses Werk des australischen Künstlers Guido van Helten. Im Rahmen des Street-Art-Festivals „The Crystal Ship“ hat er es hier auf der Ostseite des Hafens geschaffen. „Das Bild zeigt den heimischen Fischer Norbert De Smit“, sagt Christa Kurthen, „van Helten wollte damit an eine Zeit erinnern, als Ostende noch florierender Fischerhafen war. An den Augen hat er alleine fünf Tage gemalt.“ Der Ernst im Blick des Fischers nimmt den Betrachter gefangen. Genauso beeindruckend sind außerdem diese Werke auf der Ostseite des Hafens:

Mit unserer Fremdenführerin sind wir abwechselnd per Rad und zu Fuß unterwegs, die Street-Art-Werke verteilen sich über weite Bereiche der Stadt. Wer lieber alleine loszieht, kann sich in der Touristinfo (Monacoplein 2) eine Karte abholen, auf der alle Exponate eingezeichnet sind. Christa zeigt uns die Schönsten der insgesamt 60 Werke, die hier im Lauf der letzten vier Jahre zusammenkamen. Mal sind sie riesig (das höchste misst 40 Meter), mal winzig klein und leicht zu übersehen.

„Das Kunstfestival The Crystal Ship ist das größte seiner Art in Europa“, sagt sie, während wir per Boot hinüber auf die Westseite des Hafens fahren. „Initiator Bjørn Van Poucke hat es nach einem Song der Rockband The Doors benannt.“ Man kann dabei Wandmalereien von renommierten Street-Art-Künstlern wie ROA (ein Graffiti-Star aus Gent), des amerikanischen Kollektivs CYRCLE, des Argentiniers Eversiempre aka Nicolas Romero oder von Robert Montgomery aus Schottland entdecken. Es gibt aber auch Werke von heimischen Newcomern. 

Auf der anderen Hafenseite tauchen wir ein in die engen Häuserschluchten. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg wegen ihres wichtigen Hafens fast vollständig zerstört, so ist das Bild geprägt von hohen Wohnblocks aus den 50er-Jahren. Durch die hohen Gebäude fällt wenig Sonne in die Straßen, im Sommer ist es hier angenehm kühl. Und die Street-Art-Werke bringen ordentlich Farbe ins Bild, jedes auf seine Art. So ließ der Künstler Pastel alias Francisco Diaz aus Argentinien in der Nieuwstraat Ecke Schipperstraat blaue, gelbe und lilafarbene Blumen im XXL-Format an einer Hauswand emporwachsen. Von der Schönheit älterer Menschen inspiriert wurde die spanische Illustratorin Marina Capdevila, sie schuf in der Adolf Buylstraat ein rosafarbenes Porträt einer alten Dame mit Cocktail in der Hand. Und dann sind da noch die ganz kleinen, feinen Werke.

„Es lohnt sich, auf Augenhöhe oder tiefer nach Bildern Ausschau zu halten“, sagt Christa, während wir durch die Gassen spazieren. Tatsächlich: An einer Hauswand unter einem Fenster sind einige kleine Müllmänner verewigt. Sie schaffen dort nicht wie erwartet Ordnung, nein, sie stiften eher Chaos. Einer setzt gerade zu einem Kopfsprung in einen Müllberg an, der andere sprayt selbst ein Graffiti an die Wand. „Das ist das Werk des belgischen Künstlers Jaune“, sagt Christa schmunzelnd, „er ist seit dem ersten Jahr des Festivals dabei und hat seitdem in der ganzen Stadt seine frechen Müllmänner verteilt.“ Immer wieder begegnen uns die kleinen Chaoten: auf einer Mauer, wo sie in Mülltonnen sitzend Wettrennen veranstalten, oder auf einem Schaltkasten, wo sich einer von ihnen ganz ungeniert am Hintern kratzt. Immer müssen wir grinsen, wenn wir sie entdecken. „Dann hat Jaune sein Ziel erreicht“, sagt Christa.

Etliche Wandmalereien liegen etwas außerhalb des Stadtkerns und sind am einfachsten mit dem Rad zu erreichen. Leihstationen gibt es viele entlang der Uferpromenade und mit ein wenig elektrischer Unterstützung kann jeder die Tour leicht bewältigen. Sie eröffnet uns ein ganz anderes Bild von Ostende: Statt Wohnblocks und Hafenkais reihen sich hier Einfamilienhäuser aus Backsteinen aneinander, dazwischen liegen grüne Parks mit Spielplätzen und Teichen. Und auch hier zeigen uns die Kunstwerke, wie unterschiedlich Street-Art sein kann. Noch ein paar Beispiele gefällig? Da wären etwa:

– Das abstrakte, blau-grüne Bild des Künstlers Nelio (der Franzose nutzt seinen eigenen Namen und interpretiert ihn immer wieder abstrakt neu)

– Das Schwarz-Weiß-Gemälde des Amerikaners Zio Ziegler, der Einflüsse der Renaissance und Architektur liebt und in Ostende ein Bild mit afrikanischen Elemente schuf

– Die von James Ensor inspirierte Malerei von Franco „Jaz“ Fasoli, die vom Stil her an die Französische Revolution erinnert 

– Das „Crazy Keyboard“ von SpY (der Spanier setzt sich auf ironische Art mit der Meinung über „echte“ Kunst auseinander), das nicht mehr und nicht weniger ist als stilisierte zufällig angeordnete Buchstaben an einer Wand.

Die Aufzählung könnte noch lange so weitergehen, genau wie unsere Radtour. Die beenden wir, wie sie begonnen wurde – vor einem Porträt. Diesmal ist es das einer sinnlichen, weiblichen Figur, deren Kopf aus einem Schmetterling besteht mit langen, blaugesträhnten Haaren, die bis über die Schultern fallen. Das Werk der Französin Miss Van strahlt Poesie aus. Und während wir noch die Details des Gemäldes betrachten, bringt es Christa auf den Punkt: „Street-Art ist Art for everybody. Es ist so einfach, diese Kunst kennenzulernen, weil sie so zugänglich ist. Und man muss keine Idee haben, wie Kunst aussehen sollte – das ist die Stärke von Street-Art.“

Führungen zu den bislang rund 60 bestehenden Werken lassen sich hier buchen.