Manchmal träume ich von den Galapagos Inseln.
Meist passiert das nach einem Treffen mit alten Schulfreunden, oder wenn mich ein Lied im Radio an die Zeit erinnert, in der wir 17 oder 18 Jahre jung waren.
Galapagos verfolgt mich seit meinem mündlichen Abitur. Prüfung im Grundkurs Biologie, Schwerpunkt Evolutionstheorien. Meine Lehrerin zuversichtlich, der Zweitprüfer ein cooler Typ, der gerne mit einem Pappbecher Espresso und verspiegelter Ray-Ban unterrichtete.
Text und Fotos: Stefan Nink
Das Thema kam auf Darwin, natürlich, und ich erzählte von den Finkenarten, die der Forscher damals auf den Inseln fand und die ihn auf die Idee brachten, dass das mit der Entstehung der Welt möglicherweise doch nicht so war wie in der Bibel beschrieben. Der Zweitprüfer unterbrach mich. „Eine Zahl dazu, Nink“, sagte er, „ich will eine Zahl.“
Ich begann, in meinem Gedächtnis herumzustochern. Wann war die Erde entstanden? Wie alt war der Planet? Ich wurde nervös. Der Zweitprüfer spielte mit einer Marlboro, während ich krampfhaft versuchte, die Entstehung der Erde zu datieren. Es war was mit kommafünf, das wusste ich. 2,5 Milliarden? 9,5? Der Zweitprüfer wollte das jetzt beenden.
Er legte sein Feuerzeug neben die Zigarette. Meine Lehrerin war blass. Ich entschied mich für die Mitte. Die Erde ist 5,5 Milliarden Jahre alt, sagte ich. Der Zweitprüfer seufzte. Das sei ihm scheißegal, sagte er. Er wolle jetzt endlich wissen, wie viele Finkenarten Darwin auf Galapagos gefunden habe. Vierzehn, sagte ich. Der Zweitprüfer ging rauchen. Und ich hatte bestanden.
Manch einer hat schon versucht, Echsen von der Insel zu schmuggeln
Man kann die Galapagos Inseln nur schwer beschreiben
Damit wir das hier gleich zu Beginn geklärt haben: Ja, man sieht die tatsächlich überall. Nicht bloß die Meerechsen – auch alle anderen Arten, die man aus Büchern und Filmen über Galapagos kennt, liegen, schwimmen, fliegen oder laufen einem hier permanent über den Weg. Riesenschildkröten. Pelikane. Seelöwen. Blaufußtölpel. Rochen. Kormorane. Überall sonst rennen die Tiere weg, wenn man Ihnen zu nahe kommt – hier muss man sie gewissermaßen aus dem Weg schieben. Selbst an schlechten Galapagos-Tagen, wenn das Meer schäumt und der Himmel dunkelgrau über dem Archipel hängt, selbst an solchen Tagen sitzt man abends an Deck seines Schiffs, nippt an einem Drink und versucht, das alles zu ordnen, was man im Laufe des Tages gesehen und erlebt hat. “Man kann das irgendwie nicht beschreiben”, hört man dann immer wieder in Gesprächen. Was natürlich irgendwie stimmt. Es gibt Dinge auf dieser Welt, für die die menschliche Sprache noch keine Worte gefunden hat, so alt sind sie.
Sowieso ist Galapagos eine Welt, für die einem oft die Worte fehlen. Das mag daran liegen, dass vieles von dem, was man hier sieht, einfach zu fantastisch scheint, im Sinne von: der Fantasie entsprungen. Dabei ist es genau umgekehrt: Galapagos ist heute noch so, wie einst die ganze weite Welt war, damals, bevor der Mensch auftauchte und dachte, er habe das alles im Griff und könne tun und lassen, was er wolle. Es gibt Momente auf einer Reise durch dieses Archipel, da hat man den Eindruck, die ganze große Schöpfung werde hier wie durch ein Brennglas gebündelt.
Für die Evolutionsforschung sind die Galapagosinseln das größte Freilichtexperiment der Welt
Man sitzt zum Beispiel auf einem Brocken schwarzer Lava und schaut zwei oder drei Seelöwen beim Schwimmen und Spielen zu. Dann zischt ein Pelikan unmittelbar neben ihnen ins Wasser, wie ein zusammen gefalteter Regenschirm. Links neben einem bewegt sich etwas, und kurz darauf krabbelt eine rote Krabbe über das Bein. Zwei Meter weiter rechts landet ein Blaufußtölpel und positioniert sich, als wolle er gerne fotografiert werden. Die Flossen, die ein paar Meter weiter aus dem Meer ragen, gehören übrigens nicht zu Haien: Da haben sich fünf oder sechs Mantarochen zum Jagen versammelt. Und auf einem Stein vorne am Ufer sitzt ein Drusenkopf und schaut in die Ferne. Er sieht aus, als habe er da schon gehockt, als die Beagle mit Darwin an Bord am Horizont auftauchte.
Für die Evolutionsforschung sind die Galapagosinseln das größte Freilichtexperiment der Welt: Nirgendwo sonst kann man besser beobachten, wie sich Arten unterschiedlich entwickelt haben, um sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Die Meerechse zum Beispiel: Als deren Vorfahren hier eintrafen, gab es auf den Inseln nicht genügend Grünzeugs zum Sattwerden. Also lernte das Reptil mit dem prähistorischen Aussehen im Laufe der Jahrzehntausende schwimmen und spezialisierte sich auf grünen Seetang, den außer ihm niemand fressen mochte. Wenn man heute zur richtigen Tageszeit landet, kann man zusehen, wie sich hunderte Meerechsen auf den Weg zum Mittagessen machen. Nach ziemlich genau einer Stunde kommen alle zurück an Land. Dann legen sie sich in großen Klumpen neben- und übereinander auf die sonnenbeschienenen Steine, um sich aufzuwärmen und um zu verdauen. Sonst unternehmen sie nichts, die Meerechsen. Und sind doch seit wer-weiß-wie-vielen Zeitaltern da. Irgendwas scheinen sie richtig zu machen.
Iguanas, Drusenköpfe und Drachen
Über ihre Verwandten müssen wir auch noch schnell reden. Die Drusenköpfe haben nur im Deutschen diesen merkwürdigen Namen; die englischsprachige Welt nennt sie land iguanas, was sich viel sympathischer anhört. Fünf- bis zehntausend von ihnen leben auf den Inseln, und wenn man sich vorstellen möchte, wie sich die Menschen früher einen Drachen vorgestellt haben, dann ist so ein Drusenkopf ein gutes Beispiel dafür. Vor kurzem hat ein deutscher Tourist versucht, vier dieser Tiere in einem Koffer von den Inseln zu schmuggeln. Er wurde erwischt, weil am Flughafen auf Baltra eine brandneue Röntgenmaschine installiert worden war, von der er offenbar noch nichts wusste. Die Japaner waren da erfolgreicher: Sie entführten in den Siebziger Jahren eine große Echse und brachten sie wohlbehalten nach Tokio. Sie tauchte dann später in einem furchtbar schlecht gemachten Horror-B-Movie auf, wo sie über eine Stadt aus Pappe im Spielzeugformat walzte und entsetzlichen Schaden anrichtete.
Was dann am Ende der Reise noch fehlte, waren die Finken. Darwins Finken. Zufällig flatterten zwei von ihnen aufgeregt tschilpend in der Abflughalle des Flughafens herum. Die beiden flogen waghalsige Manöver zwischen den Passagieren und stürzten sich auf jeden Baguettekrümel, den sie entdecken konnten. Einer von ihnen hat mir dabei auf den Kopf gekackt.
Titelbild: ©Stefan Nink